Hättest du mich vor einer Woche gefragt, ob ich ein Problem mit dem Thema Perfektionismus habe, ich hätte dir kopfschüttelnd den Vogel gezeigt.

Ich und Perfektionismus? Niemals!

Es gibt zwar in meinem Umfeld ein paar Menschen, die mich mit beharrlicher Freundlichkeit darauf hinweisen, aber so richtig angekommen ist das nicht.

Mein Alltag ist alles andere als perfekt und das kann ich auch beweisen

Ich bin eine Chaotin

Wo ich bin ist immer ein bisschen Unordnung. Überall liegt etwas herum. Ordnung schaffe ich nur, um den Überblick nicht zu verlieren. Unsere Wohnung ist schließlich kein Museum. Das gilt ganz besonders für meinen Schreibtisch. Natürlich sieht es, während ich parallel an mehreren Projekten arbeite, ziemlich wild aus. Aber solange ich alles im Blick habe und es funktioniert, ist doch alles paletti.

Ich starte gerne unperfekt

Ich bewundere Menschen, die Projekte vor dem Start durchdenken und perfekt vorbereiten. Schon alleine der Gedanke daran stresst mich. Ich gehe, nach Abschätzung von Risiko und Umfang, meist direkt in die Umsetzung und springe dafür auch gerne mal vom mentalen 5-Meter-Brett. Ich denke, das hat wenig mit Perfektionismus zu tun.

Mein Schreiben ist alles andere als perfekt

Tatsächlich könnten beim Schreiben einige perfektionistische Züge durchscheinen – das könnte der Grund sein, warum manche Ideen den Weg aus der Schublade nicht finden. Und von Canva wollen wir erst gar nicht reden; schlechtes Design kommt mir nicht in die Tüte. An der Stelle spreche ich allerdings nicht von Perfektionismus, sondern von Ordentlichkeit.

Wenn ich auf mein Leben und meinen Alltag schaue, kann ich nicht viel Perfektionismus erkennen. Ich habe keinen Ordnungs- oder Sauberkeitszwang und ich kann alle fünfe auch mal grade sein lassen. Und unser Leben war sowieso noch nie perfekt.

Also alles entspannt. Oder doch nicht?

Was ist Perfektionismus?

Bei der Recherche bin ich bei Wikipedia auf diesen Definition gestoßen: „Perfektionismus ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das in erster Linie durch sehr hohe Maßstäbe, einer Rigidität der Maßstäbe und einem leistungsabhängigen Selbstwert charakterisiert ist. Abzugrenzen ist Perfektionismus von hoher Gewissenhaftigkeit. Das Streben nach Perfektion bringt den Menschen zu guten Leistungen. Ist es aber vor allem durch Angst motiviert, kann es umschwenken in den pathologischen Perfektionismus. Dieser kann das Leben hemmen und die Person an der eigenen Entfaltung hindern.

Aha! Jetzt scheinen wir dem Thema näher zu kommen.

Hilfe! Ich bin in die Perfektionismus-Falle getappt

Wenn ich ganz genau hinschaue, entdecke ich sehr wohl perfektionistische Züge – insbesondere in Bezug auf meine Ziele und den Umgang mit mir selbst. Lass uns das mal genauer anschauen.

Woran erkennt man Perfektionismus?

Unzufriedenheit

Perfektionisten setzen sich gerne unrealistisch hohe Ziele und Ideale, die kaum erreichbar sind. Es ist nie genug! Ist eins dieser Ziele erreicht, wartet bereits das nächste erstrebenswerte Ziel. Die Latte wird immer ein wenig höher gelegt.

Selbstkritik

Perfektionisten sind Meister der Selbstkritik. Das müssen sie auch, um ihre hohen Ziele und Ideale zu erreichen. Entsprechend hart und selbstkritisch gehen sie mit sich um; es gibt immer etwas zu verbessern.

Angst vor Fehlern, Ablehnung und Misserfolg

Fehler zu machen, vielleicht sogar zu scheitern, ist ihre größte Sorge. Den eigenen Ansprüchen oder denen anderer nicht gerecht zu werden, macht ihnen ebenso Angst. Daher versuchen sie, alles noch besser oder schneller zu machen – und schon sind sie im Perfektionisten-Hamsterrad gefangen.

Aufschieberitis

Und um ein möglichst perfektes und nicht angreifbares Ergebnis zu liefern, brauchen sie Zeit. Perfektionisten sind Meister im Aufschieben, da sie Angst haben, das perfekte Ziel nicht zu erreichen.

Vergleich mit anderen

Ein weiterer Punkt ist der ständige Vergleich mit anderen: Die anderen scheinen meistens besser, schneller und erfolgreicher zu sein. Es gibt immer einen Grund, sich unzulänglich zu fühlen und sich noch mehr anzustrengen.

Druck

All die diese Aspekte erzeugen einen enormen inneren Druck. Es soll noch schneller, noch besser, noch leichter gehen – oder mit noch weniger Angst. Vorbilder können inspirieren und gleichzeitig den Druck gewaltig erhöhen.

Erschöpfung

Der ständige Druck, perfekt sein zu müssen, ist auf Dauer anstrengend und entsprechend ermüdend. Entspannung und Pausen gehören nicht unbedingt zur Grundausstattung eines Perfektionisten.

Volltreffer! Ich habe doch perfektionistische Züge

Das ist mir jetzt ein bisschen unangenehm, aber es ist die Wahrheit. Jetzt ist auch klar, woher das Gefühl des inneren angetrieben seins kommt

Ich würde mal behaupten, dass ich einen gesunden Ehrgeiz habe. Dabei geht es mir nicht darum, besser oder schneller als andere zu sein; ich möchte einfach nur die beste Version meiner selbst werden. Dabei verfolge ich sehr hohe Ideale, die ich möglichst schnell erreichen möchte.

Dass das Zeit braucht weiß ich zwar, aber ich gestehe mir nicht ein, dass ich sie genauso brauche, wie andere auch.

Also gebe ich Gas, als gäbe es kein Morgen – nach dem Motto „wer viel macht, erreicht auch viel“. Den Glaubenssatz habe ich meinen Eltern abgekauft, denn ich weiß natürlich dass es auch darum geht, das Richtige zu tun. Okay, da darf ich hinschauen. Jetzt ist auch klar, warum mir Pausen bisher so schwergefallen sind.

In Kombination mit den gesellschaftlichen Vorstellungen und Konzepten, die bei keinem von uns ihre Wirkung verfehlen, kann eine leicht irre Kombination entstehen.

Was für eine Erkenntnis!

So langsam dämmert mir, wie ich zur Leistungstochter wurde, für die die Latte nicht hoch genug liegen kann. Auf die Gefahr hin, dass sie dabei vor die Hunde geht. Sorry, aber ich will ja ehrlich sein.

Dabei habe ich etwas Wichtiges aus dem Blick verloren:

Mich selbst samt meinen Wünschen und Bedürfnissen.

Geile Nummer. Und wessen Leben habe ich dann gelebt? Für was oder wen habe ich mich so angestrengt? Für die anderen? Für Ziele, die nicht wirklich meine sind? Das ist ja mal spannend.

Perfektionismus ist ein Mindset-Thema

Perfektionismus zeigt sich nicht immer im Außen. An dieser Stelle war ich tatsächlich betriebsblind. Deshalb kamen die Hinweise von meinem Umfeld nicht bei mir an. Denn ich hatte die Beweise im Außen gesucht und nicht im Inneren – meinem Mindset.

Autsch! Diese Erkenntnis tut weh.

Mir war zwar bewusst, dass ich mich viel zu sehr antreibe; die Verbindung zum Perfektionismus hatte jedoch nicht gesehen. Aus der Ecke kommt also die latente Unzufriedenheit.

Wie soll sich ein Mensch den gut, gelassen und leicht fühlen, wenn er sich ständig angetrieben fühlt, und viel zu hohe Ziele und Ideale erreichen will? Nicht zu vergessen: Ich habe mir das alles selbst fabriziert und zusammengebaut – das ist ein DIY Modell! Heieiei

Der Weg aus dem Perfektionismus

Meine Erkenntnis entstand während einer Reflexions-Session und hatte eine tiefgreifende und nachhaltige Wirkung. Ich stehe immer noch fassungslos neben mir und kann kaum glauben, dass ich mir selbst auf den Leim gegangen bin. Gleichzeitig entspannte sich sofort etwas in mir, als ich die Zusammenhänge erkannte: Ich bin Zielen und Idealen regelrecht hinterhergejagt und brachte mich damit in eine Art Dauerstress. In diesem Moment fiel etwas von mir ab. In mir wurde es plötzlich ganz ruhig. Das war im ganzen Körper spürbar.

Gefahr erkannt, gefahr gebannt!

Das Gefühl im Körper ist jetzt mein innerer Kompass. Gleichzeitig habe ich ein neues Bewusstsein für das Thema und das ist ja bekanntlich der erste Schritt zur Veränderung.

Was ich sonst noch tun werde:

Selbstreflexion

Das Thema hat einen großen Einfluss auf mein Wohlbefinden. Und weil ich wirklich etwas verändern möchte, werde ich meine Gedanken und mein Verhalten achtsam beobachten. Um mir meiner Fortschritte bewusst zu werden und zu erkennen, wo ich in die Perfektionismus-Falle tappe und wo nicht.

Überprüfung meiner Ziele und Ideale

Ich werde meine Ziele und Ideale erneut unter die Lupe nehmen. Sind sie noch aktuell oder sind es vielleicht alte Ziele, die gar nicht mehr zu mir passen? Sind sie realistisch und erstrebenswert? Motivieren oder stressen sie mich?

Fokus auf den Prozess, statt auf das Ergebnis

Mit der Veränderung der Ziele, das spüre ich schon beim Schreiben, wird sich auch der Fokus verändern. Wenn die Latte nicht mehr ganz so hoch hängt, kann ich mir mehr Zeit für den Weg nehmen – denn um den geht es doch in Wirklichkeit!

Fokus auf mich: Mit wem vergleiche ich mich?

In herausfordernden Zeiten haben mir die Geschichten erfolgreicher Menschen unglaublich geholfen. Inzwischen sehe ich das kritisch, denn wenn der Weg dorthin zu lang und zu unrealistisch ist, kann dass schnell mal zum Bumerang werden und demotivieren. Ich kann mich davon inspirieren und motivieren lassen, darf dabei aber mich selbst nicht aus dem Blick verlieren. Meine Wünsche, Ziele und Bedürfnisse.

Ich bin gut genug

Ich achte auf die Verbindung mit mir selbst und bin vor allem nachsichtig mit mir. Egal was ich jetzt, hier und heute schaffe und was unerledigt bleibt, ich bin gut genug. In meiner Unvollkommenheit ( wer oder was ist schon perfekt) bin ich vollkommen. Ich bin verletzlich und vielleicht auch ängstlich. Doch all das ändert nichts daran, dass ich auch mutig und liebenswert bin. Dafür achte und schätze ich mich.

Erkenntnis

Mir wurde beim Schreiben bewusst, dass ich nicht in allen Bereichen nach Perfektion strebe. Wenn ich etwas Neues probiere, lege ich einfach los und schaue, was passiert. Manche Fehler sind doof, aber sie gehören dazu – genauso wie das Scheitern. Was mich überrascht hat ist, wie sehr ich mich von Zielen und Idealen antreiben lasse, die vielleicht gar nicht mehr aktuelle sind.

Work in progress

Wie alle Veränderungsprozesse braucht auch dieser seine Zeit – aber die Kugel rollt und ist nicht mehr aufzuhalten! Ich lerne, mehr auf mich selbst als auf die anderen zu achten. Lerne mich abzugrenzen, meine Bedürfnisse wichtig zu nehmen, anzunehmen und mich vielleicht sogar zu lieben. Ich lerne, meine Grenzen zu verschieben und mein Bedürfnis, irgendwelchen Idealen hinterherzujagen und gefallen zu wollen, mehr und mehr loszulassen. Um Gelassenheit, Freude und Leichtigkeit in meinem Leben zu lassen.

Und das Wichtigste: Ich erkenne an, dass Fehler zum Leben dazugehören und dass der Weg mit all seinen Unvollkommenheiten genauso wertvoll ist wie das Ziel selbst!