Eine Woche nach meiner Abreise sitze ich schon wieder bei meinen Eltern auf der Terrasse. Obwohl wir im Schatten sitzen, ist es brütend heiß und wir freuen uns über jedes Lüftchen, das uns erfrischt. Ich beantworte Fragen, die sie mir innerhalb von dreißig Minuten mehrmals stellen. Immer und immer wieder. Ich beantworte sie geduldig, denn inzwischen weiß ich, warum sie das tun.

Wie ich merkte, dass etwas nicht stimmt

Dass meine Eltern vergesslich werden, wurde mir schon vor ungefähr zwei Jahren bewusst. Es gab eine Begebenheit, die mich wachsam werden ließ. Auf der Rückfahrt nach München wollten wir bei meinen Eltern einen kurzen Zwischenstopp machen. Zwei Tage vorher kündigten wir unseren Besuch an, meine Mutter wollte Mittagessen kochen. Zwei Stunden bevor wir den Wohnort meiner Eltern erreichen sollten, riefen wir nochmal an und stellten fest, dass sie sich an nichts mehr erinnern konnten. Meine Mutter hatte kein Mittagessen gekocht, also brachten wir von einem Café unterwegs Kuchen mit. Zu der Zeit wunderte ich mich nur, aber inzwischen ergeben die einzelnen Puzzleteile ein Bild.

Keiner bereitet einen wirklich auf das alt werden vor

Das war zumindest die traurige Erkenntnis meiner Mutter während der Woche, in der ich bei ihr war. Meine Eltern, vor allem mein Vater, haben alles, was mit dem Thema Tod und Sterben zu tun hat, schon immer negiert. Schon lange bevor sie 80 wurden. Auch übers älter werden konnte ich nie mit ihnen sprechen. Mein Vater hat es kategorisch abgelehnt, meine Mutter war dafür schon immer zugänglicher und ich denke, dass wir es ihr zu verdanken haben, dass es seit 15 Jahren Vollmachten für uns Kinder gibt. Wir konnten sie nie fragen, wie sie im Alter leben möchten. Und das wäre so wichtig gewesen, denn ihr Haus ist alles, nur nicht altersgerecht. Jetzt, wo sie die Situation nicht mehr einschätzen können, müssen wir das für sie entscheiden. Ob sie das wollen oder nicht. Für mich war dieser Umgang mit dem Thema schon immer unverständlich. Ich habe die ersten Bücher über Tod und Sterben mit 25 gelesen und von meinem Vater – logisch – nur Unverständnis geerntet. Es mag damit zusammenhängen, dass er einen Krieg miterlebt hat und ich kann das durchaus verstehen.

Warten auf den Tag, der alles verändert

Die kognitiven Veränderungen meiner Eltern nehme ich schon länger wahr. Inzwischen springen sie in verschiedene Zeiten ihrer Vergangenheit, können ihre Fähigkeiten nicht mehr einschätzen und überschätzen sich oftmals. Wir Kinder haben das beobachtet und standen doch hilflos daneben. Jedes gutgemeinte Unterstützungsangebot wurde rigoros abgeschmettert. Also haben wir uns auf einen „Knall“ gefasst gemacht und der kam Anfang August, als mein Vater im Supermarkt zusammenbrach. Jetzt war er da, der Bewusstwerdungs-Prozess. So schrecklich das für meine Eltern ist, so gut ist es für die Gesamtsituation, denn jetzt können wir Kinder endlich handeln.

Neuordnung

Johannes und ich, wir hatten einen gemeinsamen Workshop vorzeitig abgebrochen, um von dort direkt zu meinen Eltern zu fahren. Ich blieb eine Woche bei meiner Mutter, während mein Vater im Krankenhaus lag, denn das Gleichgewicht meiner Eltern war von heute auf morgen in sich zusammengefallen und die Realität wurde sichtbar. Das war ein sehr schmerzhafter Prozess für meine Eltern, aber da müssen sie durch, ich kann das nicht ändern. Seit der Woche bei meinen Eltern hat sich für sie einiges geändert, aber so langsam gewöhnen sie sich daran, dass täglich fremde Menschen ins Haus kommen. Es stehen noch ein paar andere Dinge an, aber die leiten wir sanft ein, damit sie sich langsam daran gewöhnen können und sich weiterhin in ihrem Zuhause wohlfühlen.

Mitgefühl – Pflege neu denken

Als ich der lieben Steffi Fleischer vor einigen Monaten meine Situation schilderte, empfahl sie mir den Film „Mitgefühl – Pflege neu denken“. Es die Dokumentation über ein völlig anderes Pflegekonzept in Dänemark und ich fand ihn sehr berührend:

„Der Film „Mitgefühl – Pflege neu denken“ gewährt einen ebenso warmherzigen wie inspirierenden Blick in den Alltag von Menschen mit Demenz und in eine Welt, in der die Kraft menschlicher Nähe kleine Wunder zu bewirken vermag. Ein Plädoyer für ein würdevolles und glückliches Lebensende.“ Eine ausführliche Beschreibung des Filmes und die Geschichte seiner Entstehung findest du in der ZDF Mediathek.

Normalerweise würde ich stapelweise Bücher zum Thema verschlingen, aber ich tue das dieses Mal ganz bewusst nicht. Der Film hat mir ein neues Verständnis für den Umgang mit meinen Eltern gegeben und ich versuche, mit offenem Herzen, viel Gefühl und Verständnis bei ihnen zu sein.

In einer anderen Dokumentation zum Thema Demenz erwähnte jemand, „dass es der falsche Ansatz ist, mit Gesundheits-Dienstleistungen Gewinne zu machen“ und dass das mit einer der Gründe ist, warum in diesem Bereich so viel falsch läuft. Ich hatte mir darüber bisher noch nicht viele Gedanken gemacht, aber wenn es in anderen Länder möglich ist, menschenwürdig alt zu werden, sollte es doch erst recht in einem Land wie Deutschland gelingen, oder? Ich lasse das jetzt mal so stehen, denn im Moment bekommen meine Eltern, was sie benötigen und den Rest wird man sehen.

Warum ich meine Eltern als Zeitspringer bezeichne

Meine Eltern haben beide eine demenzielle Entwicklung und natürlich frage ich mich, warum sie ausgerechnet diese Erfahrung machen. Darüber mache mir sehr viele Gedanken. Jetzt haben sie einander erst mal wieder. Im Moment können sie sich gegenseitig mehr oder weniger gut helfen und ihren Alltag einigermaßen bewältigen. Ich habe mich daran gewöhnt, dass sie durch die Ereignisse der Vergangenheit springen und das Bewusstsein für das Hier und Jetzt mehr und mehr verlieren.

Ich bin sehr dankbar, dass ich viele Themen mit meinen Eltern während der Zeit im Familienunternehmen weitestgehend klären konnte. Es gibt keine Vorwürfe und keinen Groll mehr. Deshalb kann ich mit viel Ruhe und Geduld bei meinen Eltern sein. Klar, kann es mal nerven, wenn einem ein und dieselbe Frage immer wieder wird, aber ich weiß ja, warum das so ist.

Mit meiner Mutter Triominos zu spielen klappt überraschend gut und wir haben viel Spaß dabei.

Bewusstsein für die neue Realität

Während mein Vater im Krankenhaus lag, erzählte mir meine Mutter, wie erfüllend sie ihr Leben – trotz der vielen Herausforderungen – empfand. Die Ereignisse haben ihr schmerzhaft bewusst gemacht, wie schnell das Leben zu Ende sein kann. Es wird Zeiten geben, in denen solche Gespräche nicht mehr möglich sind. Zeiten, in denen sie mich vielleicht nicht einmal mehr erkennt. Bei all dem hilft mir die Spiritualität und das Wissen, dass der Tod nicht wirklich das Ende ist.

Was ich beobachte ist, dass, je älter wir werden, unsere mentalen Programme immer deutlicher werden. Auch (oder vor allem) die ungeklärten. Ich lerne auch, dass so manche Gewohnheit im Alter sehr hilfreich sein kann. Was sich für mich allerdings auch bestätigt ist, wie wichtig die Klärung der eigenen Muster ist. Körper, Geist und Seele sind eine Einheit und das eine wirkt auf das andere. Die Situation meiner Eltern hat mir wieder einmal mehr vor Augen geführt, wie wichtig es ist, ein bewusster und reflektierter Mensch zu werden. Dass wir uns richtig verstehen: Meine Eltern hatten nicht die Möglichkeit, ihre Traumata zu heilen. Aber wir haben die Chance und wir sollten sie nutzen.

PS: Durch den Impuls einer lieben Freundin, bin ich auf Sabrina Fox gestoßen, deren Bücher ich vor ganz vielen Jahren regelrecht verschlungen habe. Ich habe ihr Buch „Der langsame Abschied meiner Mutter: Ein spiritueller Blick auf Demenz – Loslassen – Begleiten – Sterben“ innerhalb von zwei Tagen gelesen und finde es wunderbar. Ich habe viele wertvolle Impulse für mich mitgenommen und finde die Kombination mit den spirituellen Themen sehr gelungen. Eine absolute Empfehlung.