Wir Menschen haben die wunderbare Fähigkeit, uns selbst, unsere Gedanken, Verhaltensweisen und Einstellungen zu verändern. Wie passend, dass wir auch noch in der Lage sind, uns selbst zu beobachten und dadurch Unbewusstes bewusst zu machen. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass wir 95% des Tages per Autopilot unterwegs sind. Das heißt, dass wir gar nicht bemerken, wenn wir Dinge tun, mit denen wir uns selbst sabotieren oder die nicht zum gewünschten Ergebnis führen.

Das ist übrigens einer der wichtigsten Gründe, warum es mein Notizbuch gibt.

Denn in der schreibenden Selbstreflektion werden mir genau solche Zusammenhänge bewusst und ich kann sie verändern.

Die Magie des Alltags entdecken

Schreiben hilft mir, achtsamer durch den Tag zu gehen. Allerdings habe ich im Journaling Kurs letzten Monat erkannt, dass ich an der Stelle noch ordentliches Entwicklungspotenzial habe. Denn es ist etwas ganz anderes, ob ich abends kurz den Tag reflektiere, oder mir während des Tages immer wieder Zeit nehme, um inne zu halten. Letzteres habe ich kürzlich ausprobiert und lasse dich heute daran teilhaben.

Die Übung selbst ist nicht neu, aber mir wurde dabei bewusst, wie viel mehr Tiefe möglich ist. Durch das bewusste Einlassen auf einen kleinen alltäglichen Moment, bekommt er eine ganz besondere Magie. Das hat mich ziemlich überrascht.

Journaling Übung: Achtsam durch den Tag

Bei dieser Übung geht darum, achtsam durch den Tag zu gehen und Momente so bewusst wie möglich wahrzunehmen. Inne zu halten und den Moment in Worten zu beschreiben. Das gelingt, indem wir dabei auf unsere Sinne achten und beschreiben, was wir sehen, hören, schmecken, riechen und fühlen. Durch die Verbindung mit den Sinnen verbinden wir uns nicht nur mit dem Hier und Jetzt, sondern auch mit uns selbst. Bei der Übung im Kurs sollten wir das über einen Tag verteilt machen und die gesamten Texte abends für uns selbst laut vorlesen. Um herauszufinden, ob es eine Verbindung zu unserem persönlichen Kursthema gibt. Ich habe die Übung auf drei Tage verteilt.

Moment Nr. 1: Ein etwas anderer Start in den Tag

Eigentlich darf ich das, was ich gerade tue, gar keinem erzählen, denn es ist ein bisschen verrückt. Dick eingemummelt in die warme Decke sitze ich im Schlafanzug auf unserem Balkon. Das einzige, was an diesem noch dunklen Morgen leuchtet, ist der Bildschirm des Laptops, in den ich diese Worte tippe – und die Fenster in ein paar wenigen Häusern. Ich mag es, wenn Licht durch die Fenster scheint. Dann werden die Menschen in der Umgebung für mich sichtbar. Es ist kühl, aber nicht kalt. Ich bin überrascht, denn letzte Woche war es morgens frostig kalt. Ich höre die Autobahn in weiter Ferne, über mir fliegt gerade ein Flugzeug – vermutlich zum Münchner Flughafen. Der Himmel ist stockdunkel. Johannes schläft noch, die Welt auch. Ich genieße die Ruhe, die von einer einfahrenden S-Bahn kurz unterbrochen wird.

Irgendwo im Haus zieht jemand einen Rollladen hoch. Bald wird es mit der Stille vorbei sein.

Ich erinnere mich an die Jahre, in denen ich morgens um sechs Uhr halb schlafend in der U-Bahn saß, um 90 Minuten zur Arbeit zu fahren. Es war eine große Umstellung, vom Wecker morgens schon um 4:30 Uhr geweckt zu werden. Vor allem, wenn man erst um 19:00 Uhr abends wieder nach Hause kommt. Da ist der Tag so gut wie gelaufen. Es war eine anstrengende Zeit, die mir Lebensqualität genommen hat. Ich fand keine Zeit mehr fürs Yoga, die Yoga-Ausbildung konnte ich vergessen, und das tägliche Kochen fiel auch aus. Irgendwas in mir weigerte sich, mein Leben nur aus Arbeiten, Kochen und Schlafen bestehen zu lassen, aber für den Moment ließ sich die Situation nicht ändern.

Die Zeit während der Bahnfahrt nutzte ich zum Lesen. Ich habe in dieser Zeit so viele Bücher wie noch nie in meinem Leben gelesen. Seit dieser Zeit starte ich übrigens lesend in den Tag. Ich bin sehr dankbar, dass ich mein Leben immer noch lesend starte, aber der Wecker erst um 6:00 Uhr klingelt. Fünf Uhr ist mein Ziel, aber dazu müsste ich noch früher ins Bett gehen. Ich genieße diesen etwas anderen Start in den Tag. Die angenehme Kühle um mich herum und den leichten Wind, den ich an meinen Armen und Füßen spüre. Fehlt nur noch das Meer vor dem Balkon. Inzwischen ist es heller geworden und ich mache ich noch schnell ein Foto von diesem kleinen magischen Moment. Lieber Tag, ich komme.

Moment Nr. 2: Schattenspiel

Auf dem Weg zum Einkaufen mache ich einen Zwischenstopp beim Bäcker. Wir haben im Kurs eine Schreibübung bekommen, die wir an drei verschiedenen, möglichst außergewöhnlichen, Orten machen sollen. Also habe ich mein Notizbuch im Gepäck. Besonders außergewöhnlich ist die Bäckerei nicht, aber wenn man hinter dem Haus sitzt, hört man das Plätschern des Hachinger Bachs, der nur zwei Schritte entfernt verläuft.

Ich will gerade mit dem Schreiben beginnen, da traut sich die Sonne hinter den Wolken hervor und wirft diesen fantastischen Schatten aufs Papier. Diesen Augenblick will ich nutzen und entschließe mich, das Free Writing auf später zu verschieben. Ich hole das Handy aus der Tasche und mache kurz ein Foto, und dann noch eins, und noch eins. Wer weiß, wie lange die Sonne bleiben wird. Mich fasziniert der Schatten, der sich auf dem Papier abzeichnet. Nicht nur von der Plastikpflanze auf dem Tisch, sondern auch vom Füller.

Während ich meinen Text ins Handy tippe, um ihn später auf den Blog hochzuladen, höre ich, wie der Wind die Blätter über den Asphalt treibt. Ich konzentriere mich auf meine Sinne und höre die Autos auf der Straße. Normalerweise lasse ich mich davon nicht stören, ich scheine das automatisch auszublenden. Auf dem Balkon des Nebenhauses unterhalten sich ein Mann und eine Frau. Ich höre sie reden, verstehe aber nicht, was sie sagen. Ich höre das Rauschen des Baches und nehme den Stuhl wahr, auf dem ich flätzig sitze, ein Bein über das andere geschlagen. Das ist weder gut für den Rücken, noch für die Hüfte. Aber es ist so gemütlich. Ich muss mir diese schlechte Gewohnheit unbedingt abgewöhnen. Die Kaffeetasse ist leer und ich habe keine Lust auf einen zweiten. Es wird Zeit, dass ich die Zutaten fürs Kochen einkaufe, bevor mich der Hunger übermannt.

Moment Nr. 3: Wir wissen nie, was darunter sichtbar wird

Als ich letzte Woche mit einer Freundin am Starnberger See entlang fuhr, erinnerte ich mich an eine alte Scheune, die ich vor vielen Jahren dort fotografiert hatte. Ich habe sie noch ganz genau vor Augen: Eine alte, halb verfallene Scheune, hellblau angestrichen. Johannes hielt extra am Straßenrand, damit ich sie fotografieren kann, um sie bei einer anderen Gelegenheit vom Foto abzuzeichnen. Zu letzterem kam es übrigens nie. Das Bild dieser Scheune ging mir den ganzen Tag durch den Kopf. Seltsam. Es ist Sonntagabend, ich sitze am Laptop, und beschließe, in den unendlichen Tiefen meiner Dateien danach zu suchen. Ich beginne 2019 und gehe weiter zurück, immer weiter. Ich bin genervt, weil es so lange dauert, bis die Fotos von der Cloud heruntergeladen sind. Von wegen „mal schnell ein Fotos suchen“. Ich finde es weder 2018, noch in den Bildern von 2017. Wo ist dieses verd** Foto?

Dafür finde ich dieses hier und mir fällt spontan der Satz ein: „Wir wissen nie, was darunter sichtbar wird“. Im ersten Moment denke ich an innere Arbeit, aber mit dem Schreiben ist es ja nicht viel anders. Während wir unsere Gedanken aufschreiben, tauchen wir Schicht für Schicht tiefer. Wie bei dieser Hauswand. Wenn der Putz zu bröckeln beginnt, wird die Beschaffenheit des Mauerwerks sichtbar. Das Foto ist in Leipzig entstanden, als sich Johannes mit einem Geschäftspartner traf. Ich erinnere mich, dass ich wie „Hans guck in die Luft“ durch die Straßen lief, weil es so viele Graffitis und andere Kuriositäten gab, die es wert waren, fotografiert zu werden.

Das ursprüngliche Foto, das ich gesucht hatte, habe ich durch dieses Foto und das Aufschreiben meiner Gedanken völlig vergessen. Vergessen ist auch der zunehmende Frust über meine erfolglose Suche heute Abend. Dann eben nicht. Morgen ist auch noch ein Tag, oder übermorgen, oder nächste Woche.

*Warum ich den Blogartikel vergessen habe

Der Blogartikel ist mir durchgerutscht, er entstand bereits Anfang Oktober. Inzwischen ist es einen Monat später, die Umstellung auf Winterzeit ist bereits erfolgt und es ist morgens um sechs Uhr sehr viel dunkler, als auf diesen Fotos. Das wollte ich, der Ordnung halber, erwähnt haben.